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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 33




Wer andere kennt, ist klug
Wer sich selber kennt, ist erleuchtet.

Wer andere überwindet, hat stärke,
Wer sich selbst überwindet, ist mächtig.

Wer Genügsamkeit kennt, ist reich,

Wer mächtig fortschreitet, hat Willen.

Wer seinen Platz nicht verliert, dauert fort,

Wer stirbt und doch nicht untergeht, lebt lange.
 
 
 


Wer in den beiden ersten Doppelsätzen etwa Gemeinplätze erblickte, möge sich erinnern, daß diese inhaltsschweren Wahrheiten hier mit dem vollen Anrecht auf Ursprünglichkeit und Erstgeburt auftreten. Lao-Tses «Sich selbst kennen» ist dem berühmten «Erkenne dich selbst» (gnothi seauton) vollkommen gleichzusetzen. Andere Menschen kennen ohne Selbsterkenntnis, ist jene Menschenkenntnis, der der Arglistige bedarf und deren erste Grade auch der Hund besitzt, jene triebartige, nur nach außen gerichtete, an Zwecke gebundene Klugheit, deren man zwar im Leben nicht entraten kann, die jedoch keine höhere Würde hat oder gibt und bei der das eigene Innere sich selber fremd und verdunkelt bleiben kann. Echte Selbsterkenntnis ist dagegen selbst Licht, wenn auch kein ursprüngliches, sondern nur durch das Hereinlassen und Hereinscheinen einer höchsten Lichtquelle gewirktes. («In deinem Licht sehen wir das Licht.») Denn wie das Selbst beschaffen ist, läßt sich nur erkennen, wenn man weiß, wie es beschaffen sein soll; dies aber läßt sich aus der Beschaffenheit des Selbst allein nicht erkennen. Daher weisen beide, der chinesische Spruch und der delphische, deshalb den rechten Weg, weil beide über sich hinausweisen.

Der Parallelismus des zweiten Doppelsatzes mit dem ersten ist augenfällig. Was dort vom Erkennen, gilt hier ebenso von der sich betätigenden Kraft. Wenn diese, nach außen gekehrt, sich anderen Menschen überlegen erweist, sie besiegt und unterwirft, so wird man sie anerkennen, obwohl sie für sich allein ohne allen sittlichen Wert ist wie beim Tier, und Wert erst dadurch erlangt, daß sie sittlichen Zwecken sich selbst unterwirft und in Dienst stellt. Damit sie dies aber kann und  tut, muß das Sittliche selbst, nicht als totes Gesetz, sondern als lebendige Kraft in den Menschen hineinwirken und seine zur innerlichen Herrschaft berufene Kraft überwunden und in Dienst genommen haben; sie muß sogar eine innere Entzweiung, einen Kampf in dem Menschen selbst, erregt haben, wenn er sich selbst überwinden soll. Besiegt er dann so sich selbst («das Fleisch durch den Geist»), dann übt er die ideale Gewalt, Tapferkeit und Macht aus, die sich geltend zu machen allein berechtigt ist.

In den folgenden Antithesen wird zunächst von äußeren Gütern geredet und angeführt, daß der, welcher an dem Seinigen genug habe und sich zu genügen weiß, reich und wohlversehen sei. Dagegen bezieht sich das «tapfere Vorgehen» oder mächtige Fortschreiten wieder nur auf ein innerliches und ideales, und ein chinesischer Ausleger sagt hierzu: «Vermag der Mensch mit mächtiger Kraft zum Guten vorzugehen, so ist es, weil er sein Trachten auf Tao gerichtet hat; auch Tao hat ein Trachten nach dem Menschen.» Dieses Trachten ist der Wille, das Wollen, welches hier in idealem Sinn zu verstehen ist - ein Wollen, das sein höchstes Ziel hat. Da dem Reichsein des sich Genügenden der Wille des mächtig Fortschreitenden entgegengesetzt ist, so liegt darin, daß jener kein Mehreres wolle, dieser aber sich nicht reich finde und darum mit entschlossener Kraft zum Höchsten dringe.

Zum Schlusse ist gesagt, daß der, welcher seinen Ort, sein Wo, die Stelle, die er im Dasein einnimmt, nicht verliert, nicht daraus scheidet, Dauer habe. In bezug auf die letzte Zeile bedeutet der Ausspruch: wer stirbt und damit nicht untergeht, nicht umkommt, nicht verlischt, mithin fortdauert, der muß seinen Platz, sein Wo unverlierbar in einem Ewigen gewonnen haben. Er hört nicht auf zu leben, ob er gleich stirbt, vielmehr hat er nun erst «Langlebigkeit» (schou), d. i. das ewige Leben.


 

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