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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 29


Wer trachten wollte, das Reich zu nehmen
und es zu machen,
ich sehe, daß es ihm nicht gelingt.

Das Reich ist ein geistiges Gefäß,
es kann nicht gemacht werden.
Der Macher zerstört es, der Nehmer verliert es.
Denn ein Wesen:

«bald geht es vor, bald folgt es nach,
bald atmet es warm, bald kalt darein,
bald wird es stark, bald wird es schwach,
bald steigt es auf, bald stürzt es ein.»

Daher:
Der heilige Mensch
meidet das Übersteigen,
meidet die Überhebung,
meidet das Überragen.
 
 
 
 
 

Die damaligen politischen Zustände Chinas waren derart, daß die Reichsfürsten oft einander bekriegten, ohne sich um den Kaiser zu bekümmern, ja auch manchmal gegen ihn Heere führten, zu welchen Übern noch mehrfach heftige und blutige Thronstreitigkeiten in der kaiserlichen Familie selbst kamen. Damit fanden sich Männer, welche die Übelstände der Zeit und die Schwäche der Kaisergewalt durch Abänderung der Reichsverfassung, neue Regierungsgrundsätze, selbstersonnene Einrichtungen und gewalttätiges Auftreten zu heilen vermeinten.

Das waren diejenigen, welche zugleich trachten wollten, das Reich zu «machen»; jedoch werden sie ihr Ziel nicht erreichen, meint Lao-Tse wohl auch auf Grund eigener Beobachtung. Als Ursache jenes Mißlingens führt er eine tiefe politische Wahrheit an. Erkennt man, daß der Staat, und in höherer Ordnung ein Reich, ein geistiges Gefäß, ein Organ des Geistes sei, das man nicht machen kann, so wird es weder doktrinäre Verfassungsmachereien noch rechtlos-gewaltsame Reichsmachereien geben. Die Geschichte Chinas bestätigte die Aussprüche von Lao-Tse. Jene Form des Gemeinschaftslebens, die wir Staat und Reich nennen, ist die unerläßliche Vermittlerin der Entwicklung des Gesamtgeistes für eine Vielheit von Menschen. Da aber dieser Geist des Ganzen keine Individualität ist und daher nicht mit sittlicher Freiheit verfahren, sondern sein Organ nur wie in einem unbewußten Naturprozeß gestalten kann, so muß er hierin ungestört sich selbst überlassen bleiben; daher ein genialer Staatsmann nichts Größeres tun kann, als das Urbild der von dem Gesamtgeist herausgesetzten oder angestrebten Form zu erkennen und ihm zu einer möglichst passenden Darstellung zu verhelfen.

Jeder anderen selbstersonnenen und selbstwilligen Macherei und Tuerei sich zu enthalten, das ist Nicht-Tun und Nicht-Machen, worauf Lao-Tse dringt. Einer solchen, dem Gesamtgeist widerstreitenden Tätigkeit muß notwendig mißlingen: dringt sie durch, so zerstört sie das wahre geistige Organ; bemächtigt sie sich dessen, so erweist es sich stärker und entledigt sich ihrer. Darum heißt es von dem Reich als geistiges Gefäß: Wer es macht, zerstört es; wer es nimmt, verliert es.

Wie bei dem Reich, so auch bei dem einzelnen Menschen, folgen einander Werden und Vergehen, Aufsteigen und Sinken. Dem rüstigen Voranschreiten, der jugendlichen Wärme, dem Erstarken und Vollwerden folgt ermattetes Nachgehen, Erkaltung, Schwächung, Untergang. Die zitierten Denkreime führen aus, was der Vers im folgenden Kapitel sagt: «Was stark geworden ist, ergreist.»

So wird eine angemaßte Herrschaft, eine selbst ersonnene Reichsgestaltung ihre Höhe nicht behaupten können, und damit auch nicht ihr Urheber. Die Reime zeigen jedoch auch im allgemeinen die Wandelbarkeit aller Dinge, die Vergänglichkeit alles dessen, was in der Welt als vorzüglich und wünschenswert gilt.

Daher vermeidet der heilige Mensch in seiner Beziehung zum Reich das Übersteigen (Hochhinauswollen), die Überhebung über andere, und das Überragen (an Macht und Ehren) und verschmäht im allgemeinen das Extrem, das Übertreiben, das Groß-Tun und Groß-Machen. Er weiß, daß ihnen nur Fall, Erniedrigung und Demütigung folgen.
 
 
 


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