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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 24




Wer sich auf die Zehen stellt, steht nicht fest.
Wer die Beine spreizt, schreitet nicht fort.
Wer sich ansieht, leuchtet nicht.
Wer sich recht ist, zeichnet sich nicht aus.
Wer sich rühmt, hat kein Verdienst.
Wer sich erhebt, ragt nicht hervor.

Sein Verhalten zu Tao
ist wie Speiseüberrest, wie schwülstiges Gebaren;
jeder verabscheut es.

Darum:
Wer Tao hat, hält es nicht so.
 
 
 



 

Lao-Tse kehrt auf seinen Hauptgegenstand zurück. Sagte er im 14. Kapitel: «Es zieht sich zurück ins Wesenlose», ins Nicht-Wesen, um sich dort zur reinen Anschauung des Absoluten zu erheben, so wird hier die Substantialität des Absoluten ausgesprochen, dessen Einheit und Einzigkeit an mehreren Stellen betont ist, und seine Vollkommenheit, in welcher nichts Einzelnes zu unterscheiden ist. Still und verborgen, körperlos (immateriell) und überweltlich beharrt es und ist unwandelbar, während alles, was nicht es, steter Änderung, Werden und Entwerden unterworfen ist. Aber durch alles geht es hin, durchdringt alles, und damit ist seine Anwesenheit in jedem denkbaren Punkt ausgesprochen. Doch dies gefährdet es nicht, nimmt ihm nichts und ändert an seinem Wesen nichts.

«Der Welt Mutter» bezieht sich auf das Hervorbringen und Erhalten (Ernähren) aller Dinge; doch soll ersteres hier wohl vorwiegen. Schon im I. Kapitel war gesagt, daß ein nennbarer Name nicht Taos ewiger Name sei. Den Namen, der Taos Wesen ausspricht und mit dem es sich selbst bezeichnen würde, kenne ich nicht; ich kann ihm daher nur einen anderen, einen Titel- oder Verlegenheitsnamen beilegen, und wenn ich dies tue, so nenne ich es Tao.

Zwinge ich mich, strenge ich mich an, ihm einen Namen zu geben, welcher Bezeichnung seines Wesens ist, so nenne ich es groß (Ta), das absolut Große, welches alle Größe in und unter sich befaßt, nicht allein die extensive, sondern auch die intensive. Aber diese Anschauung treibt mich weiter; ich kann bei der Größe nicht stehen bleiben, und daher wird dieser Name unzutreffend. Denn das absolut Große ist zugleich das über mich absolut Hinausgehende, Fortgehende, Transzendente. Das absolute «Fortgehen» oder Fortgegangene ist eben damit auch das absolut Ferne oder Entfernte, und auch so muß ich es nennen. Aber dies Entfernte ist ja das Absolute, das Wesen, das, wo es ist, ganz ist, in dem alles ist und das durch alles hindurchgeht, das auch in mir, jetzt sogar in meinem Denken ist, und deshalb muß ich es auch als das «Zurückkehren», das Wiedergekehrte, bezeichnen. (Vgl. Jerem. 23,23. 24.)

Daß alle Versuche der Wesensbezeichnung von Tao durch Namen ungenügend seien, braucht  Lao-Tse nicht hinzuzufügen, da er bereits gesagt hat, er kenne seinen Namen nicht. Dies Geständnis steht mit Kap. 14 nicht in Widerspruch, da die Bestandteile des dort angedeuteten Namens weder einzeln noch verbunden eine hinreichende Wesensbezeichnung des Unnennbaren für Lao-Tse waren. Treffend ist der notwendige Fortschritt im  Denken des Absoluten. Denkt man Tao als das absolut Große (bejahender Ausdruck für das doppeltverneinende «unendlich», enzoph), so treibt dies zu dem Gedanken seiner Transzendenz, welcher sich weiter zu dem der Überweltlichkeit  steigert, in diesem und durch diesen aber zu dem der Immanenz wieder zurückkehren muß.

Groß, als alleinige Wesensbezeichnung für Tao, zeigte sich unzulänglich. Vom Absoluten ausgesagt, hat es zwar seinen guten, inhaltsschweren Sinn, «denn Tao ist groß», als allgemeiner Begriff aber ist es auch noch von anderem auszusagen, denn auch «der Himmel ist groß, die Erde ist groß, ja auch der König ist groß». Die Größe ist hier nicht von der Ausdehnung, sondern von der Macht gesagt; und Himmel und Erde sind nicht als bloße Naturgegenstände, sondern als lebendige Weltmächte aufzufassen. Der König war zu dieser Zeit noch «der Himmels-Sohn» (thien-tse), der Kaiser, weil er seine Würde aus des Himmels Auftrag (thien ming) erhalten hatte. Zum Repräsentanten aller Menschen als höchster und einziger Obrigkeit über alle Welt wurde in China das kaiserliche Amt um so mehr, als mit ihm allein auch das Priestertum für «die Menschen» verbunden war.

Der König wird «der Mensch» genannt, weil er hier zugleich als solcher in Betracht kommen soll. Er wird durch das Irdische das Himmlische und durch das Himmlische das Ewige, Tao, gewahr, und in des Menschen Macht steht es, nach dem Richtmaß, das ihm auf diesem Wege als das ewige vorgehalten wird, sich zu bestimmen. Daß die Erde durch den Himmel bestimmt wird, ist naturwissenschaftlich festgestellt; interessant ist daher der Gedanke, daß sich die Erde auch nach dem Himmel bestimmen und nicht lediglich blinder Naturnotwendigkeit folgen soll. Haben nun Mensch, Erde, Himmel ihren Bestimmungsgrund jedesmal in einem anderen. Höheren, so bestimmt Tao sich durch sich selbst, «von selbst so», womit die absolute Freiheit des Tao ausgesprochen ist. («Unbegreiflich, vollkommen» kann man auch übersetzen: «im Chaos vollendet».)
 
 

 
 


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