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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 21




Der leeren Tugend Inhalt, nur Tao folgt er nach.
Tao ist Wesen, aber unfaßlich, aber unbegreiflich.

Unbegreiflich, unfaßlich!, in ihm sind die Bilder.
Unfaßlich, unbegreiflich!, in ihm sind die Wesen.
Unergründlich, dunkel!, in ihm ist der Geist.

Sein Geist ist höchst wahr, in ihm ist Treue.

Von alters her bis jetzt verging sein Name nicht,
weil es aller Dinge Anfang bewirkt.

Woher weiß ich, daß aller Dinge Anfang so ist ?
Durch dieses.
 
 

«Tugend» (te), in der Regel unserem Wort  Tugend entsprechend, ist auch «Vermögen, Macht», vielleicht weil es von den Chinesen mit dem gleichlautenden (te), obschon mit einem anderen Zeichen geschriebenen Wort für «vermögen, erlangen, besitzen», in Verbindung gebracht wurde; hier bedeutet «Tugend» Vermögen als Grund der Möglichkeit, als Potenz; «leer», ferner «inhaltslos, Loch, leerer Raum, Ausweitung», erklären andere Ausleger als «groß, weit». Das also, was «sich zurückzieht» in das Nicht-Wesen, in dem noch kein „Was“ ist, ist lauteres, leeres Vermögen (Tugend), inhaltlose Macht, eine Macht, welche weiterhin der Anfang oder Urgrund von Himmel und Erde wird (Kap. 1), dies aber an und für sich noch nicht ist. Indem Tao dem leeren Vermögen, der inhaltlosen Kraft der Möglichkeit, den Inhalt gibt, setzt sie auch denselben und wird schaffend. Dieser Inhalt des an und für sich inhaltlosen Vermögens, welches in ihm nicht aufgeht, ihn aber als ein Reales setzt, folgt Tao nach. Durch Tao erhält er sein „Was“, während jenes ihm nur sein „Das“ gibt.

Während der Denker sich vertieft in den der Macht Taos, von dessen Wesen gewordener Potenz, dargebotenen Inhalt, tritt es seiner Intuition zuerst entgegen, daß in ihm, in Tao, der da Wesen ist, vor allem die «Bilder», die Urgestalten der vielgestaltigen Welt, der «Myriaden Wesen» enthalten sind. Dem Zusammenhang nach sind dies die Urbilder jenes Inhalts selbst, durch deren Eingestaltung in das ihnen gegebene «Wesen», ihnen eben «der Anfang verliehen» wird; wenn Lao-Tse hierin an die Ideenlehre Platons erinnert, so dürfte er doch die in derselben bestehende Scheidung der Ideen von den Dingen vermeiden, sie aber ebenso wenig in die aristotelische, bloß begriffliche, Wesenheit auflösen. Aber er gibt ihnen auch nicht jene gewissermaßen selbständige Wesenheit. Denn wenn er von Tao sagt: «in ihm sind» oder «seine Mitte, sein Inneres, hat» die Bilder, so bezeichnet er dadurch diese Imagines als Inhalt der Imagination Taos, also in jeder Hinsicht nur in und durch Tao, aber keinesfalls an sich selbst seiend, sofern ihnen nicht «der Anfang zugeteilt» wird in einem Selbstsein oder Ansichsein.

Hieß es zuerst: «Tao ist Wesen», und heißt es jetzt: «in ihm sind die Wesen» oder: «sein Inneres hat die Wesen (das Wesen)», so macht Lao-Tse einen Unterschied zwischen Wesen und Wesen. Mit dem ersten bezeichnete er Tao selbst als Substanz gegenüber dem überwesenden Urgrund; das zweite aber ist diejenige Substanz, die Unterlage und reale Voraussetzung, worin und woran die Bilder aus dem bloßen In- und An-Tao-Sein in ein Sein an sich und für sich gebracht werden können, also noch nicht als physische Materie, sondern erst als die Möglichkeit derselben gedacht, da sie im Tao sind, das alles Materielle ausschließt.

«Geist», Essenz, Same ist das Auserlesene, Reinste und Feinste in den Dingen, dann auch Geist in unserem Sinn, Geisteskraft und Person setzendes Prinzip, vermittels dessen die Einheit von Urbild und Substanz hergestellt wird und sich entwickeln und fortdauern kann. Alle drei vorgeschöpflichen, das Schaffen (Anfanggeben) vermittelnde Prinzipe sind nicht für sich; Bild, Substanz und Geist sind in Tao.

Sein Geist, Tao in seinem Geist ist wahr, aufrichtig und treu. Das Schriftzeichen für «Treue, Aufrichtigkeit» sagt: «Ein Mann, ein Wort.» Nach  Kap. 1, 32 hängt das Hervorbringen aller Dinge, das Anfangen zu schaffen, mit der Benennung Taos zusammen; erst von da an hat es einen Namen. Hier  dürfen wir uns die zu Anfang als inhaltleer gedachte Kraft (Tugend) als das Wirkende denken, welche ebenfalls Taos ist.

In diesem bedeutungsvollen Kapitel haben wir Lao-Tses Schöpfungslehre vor uns. Zuerst ist Tao reines, inhaltloses Vermögen (Tugend), bloße, unendliche Kraft, aus welcher vor allem das wesenhafte Tao hervorgeht, das jener allen Inhalt gewährt und bestimmt. In ihm sind aber auch aller geschöpflichen Wesen Urbilder und Substanz, beide jedoch noch als vorgeschöpfliche, in denen die Wesen noch keinen Anfang, kein „Für sich sein“ haben, weshalb auch diese Substanz (Wesen) noch nicht die Materie, sondern nur deren Grund und Voraussetzung sein kann. In ihm ist auch der Geist, das Prinzip der Einheit und Einigung (Kap. 39), der sowohl sein Geist als Geist aller Wesen ist. Mit der Einigung von Urbild, Substanz und Geist tritt Tao aus seiner Unerkennbarkeit und Unnennbarkeit hervor und verleiht in Wahrheit und nach seiner Treue allen vorersehenen Wesen zu ihrer Zeit den Anfang eines eigenen Daseins für sich.  «Durch dieses» bezieht sich auf Tao.
 

Von der leere des Herzens


der/aufrichtigen/gesinnung/haltung
nur/weg/recht/folgen

des/weges/wirken/etwas
das/unfasslich/das/unbegreiflich

unbegreiflich/o/unfasslich/o
sein/inneres/hat/bilder
unbegreiflich/o/unfasslich/o
sein/inneres/hat/wesen
unbegreiflich/o/unfasslich/o
sein/innres/hat/keime

seine/keime/ungewöhnlich/echt
ihr/inneres/ist/gewissestes:
von/urtagen/bis/heute
sein/name/un/erläßlich
um/einzusehen/allen/beginn

ich/woher/weiß/allen/beginns/form?
durch/dies 
 


Der aufrichtigen Gesinnung Haltung ist,
nur dem rechten Weg ganz zu folgen -

Des rechten Weges Wirken ist ein Etwas,
Das unerlässlich, das unbegreiflich!

Unbegreiflich, o, unfasslich, o,
sind in seinem Inneren Bilder
Unfasslich, o, unbegreiflich, o
Sind in seinem Inneren Wesen,
Verborgen, o, unergründlich, o,
sind in seinem Inneren Keime

Seine Keime sind von ungewöhnlicher Echtheit
Und ihr Innerstes ist das Gewisseste:
Von den Urtagen an bis heute
Ist sein Name unerlässlich,
Um einzusehen allen Beginn.

Woher ich von der Form alles Beginns weiß?
Eben durch dies.
 

 
© Jan Ulenbrock – Ullstein Buch – ISBN 3 548 20067 2   Lao Tse   Tao te King
 

 
 
 

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