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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 18


 
 


Wird das große Tao verlassen,
gibt es Menschenliebe und Gerechtigkeit.

Kommen Klugheit und Gewandtheit auf,
gibt es große Heuchelei.

Sind die sechs Blutsverwandten uneinig,
gibt es Kindespflicht und Elternliebe.

Sind Land und Sippen in Verfall und Zerrüttung,
gibt es treue Staatsdiener.
 
 
 



 

Hier wird gezeigt, wie das sittengesetzliche Bewußtsein als solches sich erst beim Abfall von Tao entwickelt, zumal das Bewußtsein des sittlich Guten erst an der Erfahrung des sittlich Schlechten erwacht, jenes also diese voraussetzt. Der Abfall von Tao hat das Hervortreten schlauer Weltklugheit, die Auflösung häuslicher Harmonie und die  Zerrüttung des Untertanenverhältnisses zur Folge. Damit sinken die im ersten, dritten und vierten  Satz genannten Tugenden zu bloßen Bestandteilen gewöhnlicher Moral herab, welche den Mangel unbefangenen Ausquellens ruhiger Reinheit und Güte aus tiefstem Innern durch das Betreiben von Menschenliebe und Gerechtigkeit, der Erfüllung von Familienpflichten, der Untertanen- und Amtstreue zu decken sucht. Die zwischen den wohltönenden Tugenden aufgeführte Heuchelei gibt diesen einen ironischen Klang. Die chinesischen Ausleger weisen hier darauf hin, daß man beim Festhalten an Tao alle diese Tugenden habe und übe, aber unbewußt, unscheinbar und spontan. Bei Abfall von Tao erhebt sich der Ruf nach ihnen, weil damit Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit entfesselt werden, sie nun erst als sonderliche Tugenden hervortreten und nun in der Regel aus Klugheit und Berechnung geübt werden.

Die sechs Blutsverwandten sind Vater, Mutter, älterer Bruder, jüngerer Bruder, Weib und Kind; nach anderen: Vater, Sohn, Mann, Frau, älterer Bruder, jüngerer Bruder, auch genannt die sechs Verwandtschaftsgrade. Waltet unter ihnen Einigkeit, so wird keiner daran denken, Ehrerbietung und Liebe zu verletzen, sie als Pflicht zu fordern oder für eine Tugend anzusehen. Als sittliche Forderung treten sie erst ins Bewußtsein, wenn ihr Gegenteil sich in den Gemütern bereits erhoben hat und sich äußert. Werden sie nicht erwiesen aus reinem Herzenstrieb, sondern als Pflichterfüllung oder aus Klugheit, so verdecken sie nur die innere Abneigung und Widersetzlichkeit und sind wertloses Gesetzeswerk. Gleiches gilt vom Verhältnis der Untertanen zum Herrscher. Treue und Ergebenheit zeigen sich erst nach Zerstörung des ursprünglichen reinen Verhältnisses, in welchem sie selbstverständlich waren, und dann werden sie als Pflicht gefordert, als Tugend gepriesen. Lao-Tse gibt dem Sittengesetz als bloßes Gesetz eine untergeordnete Stellung.
 
 

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