[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch ]


Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 17


 
 


Von den großen Herrschern wußten
die Untertanen kaum,
daß sie da waren.

Deren Nachfolger liebten und lobten sie.
Deren Nachfolger fürchteten sie.
Deren Nachfolger verachteten sie.

Vertraut man nicht genug, erhält man kein Vertrauen.
Wie vorsichtig waren ihre kostbaren Worte!
Verdienstliches wurde vollendet, Werke vollbracht,
und alle hundert Geschlechter sagten:

Wir sind frei.
 



 

Der Verfasser knüpft an die alten Könige und Herrscher, die Gründer der Dynastien, an, die im chinesischen Bewußtsein als ideale Gestalten stehen, welche das Volk durch ihr Vorbild veredelt, mit Gutem gesegnet, mit Wohltaten überhäuft hatten, ohne es zu großen Unternehmungen zu zwingen und durch Gesetzesmenge oder Vielregiererei zu belästigen. Die Herrscher sind hier als Obere den Untertanen (Untere) gegenüber bezeichnet. Diese verhielten sich so, daß die Untertanen eben nur ihr Dasein gewahr wurden, von ihrem Regieren aber nichts bemerkten, weil es nur in negativem Verhalten bestand.

Welcher Art die verschieden abgestuften Nachfolger waren, ist aus der Gesinnung des Volks zu schließen. Zeigt sich besondere Zuneigung, hört man lautes Lob, so ist das erste naive Verhältnis verschwunden; denn das, wofür die Regenten gepriesen werden, erscheint nicht mehr als etwas, das nur so sein müsse und nicht anders zu erwarten wäre, sondern vielmehr als ein solches, das sehr wohl auch anders sein könne, weil die Fürsten entweder selbst damit die Grenze einfacher Pflichterfüllung überschreiten oder es ihnen die Untertanen bereits als Verdienst anrechnen, wenn sie nur ihre Pflicht tun; hier findet sich Liebe und Lob.

Dem guten Willen folgt die Willkür, der Hingebung die Selbstsucht, und beide setzen ihre vermeintlichen Rechte mit Gewalt durch. Gehorchen und zahlen ist die Losung, und solange ein solches Regime sich durch Kraft behauptet, wird es nicht mehr geliebt und gelobt, sondern nur noch gefürchtet.

Starken, gewaltsamen Charakteren folgen schlaffe und haltlose, welche die Ansprüche ihrer Vorgänger zwar erheben, aber unvermögend sind, sie geltend zu machen. Ihnen wird Verachtung zuteil, Unordnung und Aufruhr erhebt sich; der Segen der Herrscherwürde ist zerstört.

Die alten großen «Oberen» schenkten den Untertanen volles Vertrauen, und diese daher rechtfertigten und vergalten es. Ihre Nachfolger trauten dem Volk nicht mehr zu, daß es ohne ihr besonderes Eingreifen und Wirken zufrieden und glücklich sein könne, und indem sie hiernach handelten, wurde das unbefangene Vertrauen des Volkes erschüttert. Das gegenseitige Vertrauen wurde immer geringer, der Zweifel immer stärker. Zwang und Gewalt verbreiteten Furcht und Schrecken, aber nicht Vertrauen; und wie verächtliche Schwäche nie Vertrauen erweisen kann, so zerstört sie von oben herab das Vertrauen der Untertanen.

Wie vorsichtig (Kap. 16), alles erwägend und mit großer Umsicht waren die kostbaren und daher sparsamen Worte der ersten großen Herrscher! Sie verkündigten und ermahnten, geboten und verboten selten und nie ohne Not, und dann in reichlich erwogenen, kurzen, inhaltschweren Worten; und bei allem Verdienstlichen handelten sie in Übereinstimmung mit dem Volksganzen, daß die Untertanen gar nicht fühlten, daß sie regiert wurden, daß sie sich nur durch sich selbst bestimmt, selbständig handelnd, mithin frei (wörtlich: «von selbst so».; natürlich, selbstverständlich) fühlten. - Die «hundert Geschlechter» sind ein Ausdruck für das ganze Volk, das ursprünglich aus hundert Familien oder Clans, Sippen, bestand.
 
 



[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch



© baraka