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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 15


 
 

Die Guten des Altertums, die Meister geworden,
waren fein, geistig und tief eindringend.
Verborgen, konnten sie nicht erkannt werden.

Weil sie nicht erkannt werden können,
so mühe ich mich, sie kenntlich zu machen.

Behutsam waren sie,
wie wer im Winter einen Fluß überschreitet,

vorsichtig,
wie wer alle Nachbarn fürchtet,

zurückhaltend wie ein Gast,
zergehend wie Eis, das schmelzen will,
einfach wie Rohholz,
leer wie ein Tal,
undurchsichtig wie getrübtes Wasser.

Wer kann das Trübe, indem er es stillt,
allmählich klären ?

Wer kann die Ruhe, indem er sie bewegt,
allmählich beleben ?

Wer dieses Tao festhält,
wünscht nicht gefüllt zu sein.

Ist er nicht gefüllt,
so kann er mangelhaft sein
und nicht neu vollendet.
 
 



 

Am Ende des vorigen Kapitels wurde derer gedacht, die das Tao des Altertums festhielten, und das sind hier die «Guten des Altertums», die ethisch Ausgezeichneten und Besten ihrer Zeit. Was dort das «Beherrschen der gegenwärtigen Dinge» sagen wollte, heißt hier, sie «waren Meister», Lehrer und Vorbilder, Leitende und Führende, die sich als solche bewährten. Dort war von ihrem innersten Lebensgrund die Rede: sie haben Tao aufgenommen und halten an ihm fest. Hier wird davon geredet, was sie durch Aufnahme dieses Prinzips geworden sind. Dann wird von ihrem Verhalten gesprochen, das sie erkennbar macht, und von dessen Frucht, um ihre äußerliche Erscheinung zu erklären und sie zu rechtfertigen.

Sie waren fein, geistig, tief und von durchdringender Einsicht. Alle diese Eigenschaften finden wir sonst auch Tao beigelegt, und daß ihrer die teilhaftig werden, die Tao festhalten, das ist das tiefe, geheimnisvolle Einssein mit Tao. Diese Eigenschaften würden die großen Meister des Altertums leicht vor der Welt offenbar gemacht haben, hätte die Welt Wahrnehmungsvermögen und Urteilskraft dafür. So aber – da sie nicht über Wahrnehmungsvermögen und Urteilskraft dafür verfügte – war es ihren Augen verborgen, und um so mehr, als jene es liebten, in die stille Tiefe versenkt, sich vor anderen verschlossen und verborgen zu halten. Darum «verborgen, konnten sie nicht erkannt werden». Dies deutet auch auf ein altes Bestehen einer stillen Tao-Gemeinde hin.

«Rohholz» steht hier im eigentlichen Sinn, während es sonst auch in übertragener Bedeutung von urwüchsiger Einfachheit gebraucht wird. «Leer» besagt ausgeleert von allem, was andere suchen, besitzen und womit sie glänzen, und entspricht dem Nichtgefülltsein am Schluß.

Wie kann man nun die Meister kenntlich machen, sie von anderen nicht nur unterscheiden, sondern auch ihren Sinn aufschließen und das erkennen, was sie «undurchsichtig wie trübes Wasser» verbergen? Eben durch Beseitigung der Trübung, indem man das Wasser in Ruhe bringt und so das Trübende sich allmählich niederschlagen läßt, d. h. durch stille, anhaltende Betrachtung des von jenen Meistern Überlieferten. Und neues Leben geht allmählich aus dem nicht mehr getrübten, nunmehr geklärten Wasser hervor, indem man die Ruhe behutsam und langdauernd in Bewegung setzt, d. h. dem Vorbild der Meister folgt.

Der chinesische Text hat hier die Variante «dauern» für «bewegen», so daß demnach neues Leben aus der Fortdauer, der Verlängerung dieser Ruhe sich allmählich entwickeln würde; beide Auffassungen sind möglich.

Zu alledem ist nur imstande, wer festhält dieses Tao, den Weg der alten Meister. Wer es bewahrt und ihm folgt, verlangt nicht, sein Inneres mit den falschen Realitäten der Welt und ihren Begierden danach zu füllen. Wer derart leer und unerfüllt ist von den Dingen und Bestrebungen der Welt, der ist auch gleichgültig gegen die Ziele der neueren Zeit, die auf andere Weise die Vollkommenheit sucht. So ist er imstande, auch in deren Augen mangelhaft (wörtlich: zerlumpt, abgerissen; Variante: verborgen) zu sein und nicht nach der neuen Vollendung oder Vollkommenheit zu trachten.

 
 

 

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