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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 10


 
 


Wer dem Geist die Seele eingibt
und Einheit umfängt,
kann ungeteilt sein.

Reguliert er den Lebensodem
bis zur Nachgiebigkeit,
kann er wie ein Kindlein sein.

Reinigt und öffnet er den tiefen Blick,
kann er ohne Schwachheit sein.
Liebt er das Volk und regelt er das Land,
kann er ohne Tun sein.

Öffnen oder schließen sich die Himmelspforten,
kann er wie eine Vogelmutter sein.
Lichthell alles durchdringend,
kann er ohne Wissen sein.

Er belebt und ernährt,
erzeugt und besitzt nicht,
wirkt und gibt nichts darauf,
erhält und beherrscht nicht.
Das heißt tiefe Tugend.
 



 

Die Betrachtung des Verhaltens des «höchst Guten» oder des heiligen Menschen wird hier fortgesetzt, wie es sich aus dem ethischen Prinzip ergibt; zunächst werden die psychologischen Grundlagen gegeben. Die Seele ist die Leibesseele, das Prinzip der Empfindung und Bewegung und des sinnlichen Lebens. Im Menschen sind zwei im materielle Prinzipe: der nicht zur Natur gehörende Geist, dessen Einheit seinen Verstand ausmacht (Kap. 39), und die naturhafte Seele, deren Einheit ihr Leben ist. Nicht von selbst stehen beide in dem seinsollenden Verhältnis zueinander; denn die Naturseele sollte von dem geistigen Prinzip erfasst und bestimmt sein, und da sie dies nicht ist, so muß sie von ihm überwunden und eingenommen werden.

Durch diesen Akt wird die im Menschen sonst vorhandene Zweiheit und innere Entzweiung der beiden Prinzipe aufgehoben, wobei die Seele nicht untergeht, sondern in ihren richtigen Ort erhoben wird, da nun der Geist mit ihr eins ist, weil sie eins geworden ist mit ihm. Wer diesen Akt vollzogen hat, kann «ungeteilt» sein. Die Neigungen, Triebe und Empfindungen der Seele und die ewigen Postulate des Geistes gehen nicht mehr auseinander, teilen sich nicht mehr, und er vermag in der Einfalt zu stehen.

«Lebensodem» (w.: Dampf, Hauch, Atem, dann auch das Seelische, Seelenkraft, Lebenskraft) ist nie bis zum eigentlich Geistigen gesteigert und bleibt etwas immateriell Physisches. Nach der späteren chinesischen Philosophie ist es die immaterielle Natursubstanz, welche die sichtbare Gestalt eines Wesens bestimmt und hervorbringt,  wenn zu dessen Konstituierung sich mit ihm das rationale Prinzip (li), die objektive Vernunft in den  Dingen, verbindet. Nach Kap. 42 ist der «Lebensodem» das vermittelnde Immaterielle, welches in allen Wesen die Einigung des Ruhenden, des in  sich verschlossenen, empfangenden Prinzips (Yin), mit dem Bewegenden, dem Prinzip (Yang) des belebenden, befruchtenden, aufschließenden Prozesses, vermittelt.

Die Seele entspricht also dem  Yin, der Geist dem Yang. Wer so ungeteilt ist  und seinen Lebensodem so konzentriert und reguliert, daß er weich und nachgiebig ist, und damit seine Naturseele gebändigt und bezwungen hat, der vermag dann wie ein Kindlein, wie ein Neugeborener zu sein, d. h. er ist nun fähig, anspruchslos, in schuldloser Einfalt, in stiller Harmonie seines ganzen Wesens (Kap. 55) sich zu erweisen.

«Tiefen Blick» nicht der sinnlichen, sondern der Geistes-Augen ist das intuitive Schauen, die Tiefenschau. Dieses «tiefe», geheimnisvoll in sich versunkene «Schauen reinigen und auftun» oder läutern und erweitern, d. h. klar und umfassend machen, bringt den, der in Einfalt des Geistes seine blinde Natürlichkeit überwunden hat, auf eine sittliche Höhe, wo er die kleinsten Abweichungen von diesem ethisch höchsten Zustand wahrnimmt und daher imstande ist, ohne Schwachheit im sittlichen Sinn zu sein.

Ein solcher wird als Landesfürst auch aus Liebe zum Volk eine gute Herrschaft führen, die Frieden, Ruhe und Sicherheit gewährt. Wer so, auf jener sittlichen Höhe stehend, aus Liebe zum Volk gut regiert, kann das Nicht-Tun üben, von allem eigenen Tun absehen. Es ist demnach ein Unterschied zwischen Tun und Tun, einem unerläßlichen und einem verwerflichen. Ersteres ist das Tun oder Wirken (des Nicht-Tun, Ohne-Tun: Wu Wei), welches in den letzten Sätzen des Kapitels aufgeführt wird, auf welches aber der Tuende selbst nichts gibt (s.a. Kap. 2, 51). Letzteres, das als Tun, Tätigkeit, Taten angekündigt wird, besagt: kriegerische Unternehmungen, ge-schäftiges Vielregieren, stetes Gebieten und Ver-bieten, kostspielige Bauten usw., worauf nur der weise Regent zu verzichten vermag, wie er es auch soll.

Bei «Öffnen und Schließen der Himmelspforten» ist an das Kommen und Gehen der Zeiten, Tage, Monate, Jahreszeiten usw. zu denken, viel- leicht auch an den gewährten oder zurückgehaltenen günstigen Einfluß des Himmels auf die  Fruchtbarkeit; jedenfalls sind Änderungen der  Dinge gemeint, deren Beginn und Ende unter  Leitung des Himmels steht. (Darunter zwecks Selbstbeherrschung und Regungslosigkeit das Aus- und Einatmen durch die Nasenlöcher zu verstehen,  ist trotz obiger Regulierung des Lebensodems hier wohl kaum gemeint (s.a. Kap. 6, Komm., 52, 56), obschon das Verhalten der Vogelmutter ein weiterer Hinweis ist.) Bei allen äußeren Wandlungen  kann er wie eine «Vogelmutter» sein, sich nach dem  Wandel und Wirken des Himmels wie die Mutter  eines Vogels verhalten, die, ohne laut zu werden  oder zu singen, regungslos, ruhig und zurückgezogen im Nest sitzt und ebenso lautlos ihre Jungen ausbrütet, ernährt, wärmt und schützt.

Von wem alles bisher Erwähnte ausgesagt werden kann, der ist es, welcher licht-hell mit klarem Verständnis alles durchdringt (w.: die vier Weltgegenden oder vierfach durchdringend). Jenem inneren, reinen und offenen Tiefblick entspricht der nach außen gewandte Scharfblick, dem weder das Wahre entgeht, noch der Maßstab dafür fehlt. Mit diesen Eigenschaften kann man un-wissend, «ohne Wissen» sein, w.: «kann (fähig zu) nichthaben Wissen». Von dem Wissen ist die  Rede, welches durch Lernen erworben wird (s. Kap. 19, 20), also von der Kenntnis der Regeln und Gesetze des Guten, Rechten, Schicklichen, welche bei wahrer Weisheit und Erkenntnis des höchsten Prinzips entbehrlich ist.

Allen Wesen, die sich an den dergestalt Vollendeten wenden, gibt er Leben und Lebensunterhalt; das Leben, zu dem er ihnen verholten, nährt  und pflegt er auch (s. a. Kap. 2, Komm.). Neu tritt hinzu: «Er erhält und beherrscht nicht.» Sie bedürfen es, daß er sie ernähre und so erhalte, und  das macht sie von ihm abhängig; aber er benutzt diese Abhängigkeit nicht, um ihre Freiheit zu beschränken oder sie wider ihren Willen zu Werk- zeugen seines Willens zu machen. Vgl. 51. Kapitel, in dem auf gleiche Weise Taos selbstlose Fürsorge für alle Wesen aufgeführt wird. Weil der «heilige Mensch» sich in allem eben wie Tao verhält, darum wird es auch an ihm als «tiefe Tugend», als geheimnisvolle, der Menge unzugängliche und unverständliche, gepriesen.

 

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